ARCHIV November 2011
Paddy ärgerte sich schwarz. Nicht, dass man es gesehen hätte, Paddys Haut war ohnehin rabenschwarz. Aber was zuweit ging, ging zuweit. Mit Wehmut erinnerte er sich an den Tag, als er mit Begeisterungsstürmen in der Familie als – wie Vater Florian es damals ausgedrückt hatte – neues Familienmitglied aufgenommen worden war. Das war natürlich nur so eine Floskel, Paddy wusste nur zu genau, dass er ein Kopfschulterer und kein Mensch war. Es tat jedoch gut, wie ein Mensch willkommen geheißen zu werden. Sein Gesicht saß gleich auf seinen schwarzen Schultern und Oberarmen, die Unterarme legten sich über sein heute nicht so strahlendes Gesicht, die Haare standen jetzt schwarz zu Berge.
„Aua!“ Töchterchen Martina stocherte wild in seinem Gesicht herum, das musste man sich nicht bieten lassen. Paddy nahm den Buchstaben Z aus dem Alphabet der Tastatur, auf der Martina wie eine Furie herumhackte. „Miststück!“ Das war Martina. Was konnte Paddy dafür, dass ihr Freund sie nicht zum Popkonzert mitnehmen wollte, Gothic wäre nichts für sie. Sie packte Paddy unsanft an den Armen und warf ihn auf ihr Bett. Das hätte schlimmer kommen können. Paddy stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, er war weich gelandet, aber seine Arme hatten schmerzende Druckstellen.
Die Tür ging auf, Bruder Thomas kam herein, ein neues Unheil drohte. Was hatte Paddy sich doch gefreut, als er geboren wurde. Sein strahlendes Gesicht zeigte lauter bunte Flecken wie lustige Sommersprossen, hell und freundlich lachte es den Menschen entgegen. Sein Körper, will sagen Schultern, Arme und Haare, glänzten in herrlichem Schwarz. „Komm, nimm mich mit!“ hatte er sich innigst gewünscht. Es dauerte ja auch nicht lange, bis Florian mit seinen Kindern im Schlepptau ihn sah und kaufte. Wo war nur der Glanz jener Tage geblieben?
„Wo ist Paddy?“ Paddy zuckte zusammen, Thomas Stimmung schien nicht die beste zu sein. Sein Gesicht wurde einen Schatten düsterer. Er schreckte auf, als Martina ihn packte und mit Schwung Thomas entgegenschleuderte. Der konnte ihn mit seinen klebrigen Händen so eben auffangen. Mit Grauen erwartete Paddy das Verschmieren seines so schönen Gesichts, wann immer Thomas es betatschte. Eine schreckliche Familie, er musste sich wehren. Sein Prozessor spielte schon verrückt, fühlte sich so Angst an? Die Schaltkreise liefen heiß, er brauchte unbedingt eine Abkühlung. Also Rückzug, abschalten.
„Verdammt, ich kann das Musikprogramm nicht mehr aufrufen, das Icon fehlt!“ Geschieht dir recht, dachte Paddy. Er war es leid. Selbst Mutter Sonja und Vater Florian hatten ihm in letzter Zeit übel mitgespielt. Sonja legte ihn neben den Küchenherd, suchte in seinem Gesicht schöne Rezepte zu finden, vergoss dabei ein ums andere Mal Milch oder Bratensoße über ihn, igitt. Florian behandelte ihn auch nur noch total gedankenlos, nahm ihn mit in die Badewanne, um beim Herumplanschen weiterhin die Sportschau sehen zu können. Ein Stück Mobiliar war Paddy geworden, vorbei die Zeiten des fünften Familienmitgliedes.
Eine Faust fand sich in seinem Gesicht wieder, Thomas Faust. Wie ein Berseker trommelte er auf ihn ein. Paddy zog sich weiter zurück, Flucht aus diesem Irrenhaus war die einzige Überlebenschance. „Papa, Papa, der Paddy spielt verrückt! Schau mal, der geht immer an und aus.“ Stimmt, Paddy schickte eine letzte Botschaft der Verzweiflung an seine Menschen. Florian schaute in das graue Gesicht, das nur noch schwach dann und wann aufleuchtete, dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. „Das heißt SOS, ich glaube, wir haben was falsch gemacht, Paddy braucht dringend Hilfe.“
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Paddy träumte sich gerne zurück in jene Tage, als er von allen geliebt als neues Familienmitglied bei den Pochers aufgenommen worden war. Was war das für eine schöne Zeit gewesen. Natürlich wusste er, dass er kein Mensch sondern ein Kopfschulterer war, sein damals noch strahlendes Gesicht lag zwischen seinen Händen, ruhte auf seinen Schultern und Oberarmen. Wie herrlich schwarz glänzte sein Körper, selbst die schwarzen Haare krönten fein gestriegelt seinen Kopf.
„Miststück!“ Das war Töchterchen Martina, die sich maßlos über ihren Freund ärgerte. Der hatte ihr gerade per Email mitgeteilt, dass er sie nicht zum Konzert mitnehmen würde, Gothic wäre noch nichts für sie. „Aua!“ Das war Paddy, der zusammenzuckte, als Martina ihn grob an den Armen fasste und auf ihr Bett schleuderte. Immerhin war die Landung weich, Paddy atmete auf. Aber so konnte es nicht weitergehen. Mittlerweile behandelten alle ihn wie ein Stück Holz, die Tage des fünften Familienmitgliedes waren endlich ausgeträumt. Enttäuscht und wütend zugleich ließ Paddy den Buchstaben Z auf der Tastatur, die Martinas spitze Fingernägel in den letzten Minuten zu spüren bekommen hatte, sterben.
Ihr Bruder Thomas öffnete die Tür und fragte nach ihm. In hohem Bogen flog ihm Paddy entgegen, Thomas konnte ihn noch so gerade mit seinen klebrigen Fingern auffangen. Paddy holte tief Luft, sein Prozessor jagte auf Hochtouren, seine Schaltkreise liefen heiß. Schluss mit dem Wahnsinn! Er musste ihnen ein Zeichen setzen. Aus reiner Verzweiflung ließ er einige Bilder, die wie Sommersprossen auf seinem Gesicht verteilt waren, einfach verschwinden.
„Papa, Papa, der Paddy spinnt! Ich komme nicht mehr in mein Musikprogramm!“ Thomas schmierte in Paddys Gesicht herum, versuchte immer wieder, einen Zugang zu seinem Lieblingsprogramm zu finden. Nichts ging mehr. Paddy war es leid, so lieblos, wie ihn alle behandelten, musste er sich wehren. Florian, Vater der beiden unausstehlichen Kinder, war auch nicht viel besser. Er nahm ihn mit in die Badewanne, um weiter die Sportschau gucken zu können, obwohl er wusste, welche Angst Paddy vor Wasser hatte. Mutter Sonja setzte allem die Krone auf, sie legte ihn neben die Kochfelder ihrer Arbeitsplatte in der Küche, suchte in seinem Gesicht bunte Kochrezepte. Dass dabei immer wieder Soßenspritzer und anderes auf ihm landete, störte sie nicht. Paddy zog den Stecker, er flüchtete in die Tiefen seines Prozessors.
„Lass mich mal sehen“, Vater Florian schaute auf Paddy herab. Der gab außer einem immer wieder aufflackernden schwachen SOS Signal nichts mehr von sich. „Wir haben ein Problem, Paddy braucht dringend Hilfe!“
„Trödel nicht so herum, du müsstest schon längst auf dem Weg zur Schule sein!“ Seine Mutter hatte recht, heute hatte er so lange nach dem Frühstück noch gechattet, dass er den Bus abschreiben konnte. Blieb nur noch das Fahrrad, was bei dem grässlichen Novemberwetter bestimmt kein Vergnügen sein würde. Fabian packte sich die Schultasche, stürzte die Treppe hinunter, verabschiedete sich von seiner Mutter mit einem kurzen „Tschüs“ und schlug die Haustür hinter sich zu. Das Fahrrad lehnte an der Garagenwand, der Bewegungsmelder hatte die Lampe aktiviert, die es nun hell anstrahlte. Dabei wurde Fabian bewusst, wie dunkel es an diesem Morgen noch war. Die mobile Beleuchtung fehlte, zu spät, er hatte keine Zeit mehr, nach ihr zu suchen. Es würde ja gleich hell werden.
Fabian schwang sich auf den Sattel und radelte los. Es waren gottseidank nur wenige Kilometer die kleine Hangstraße hinunter bis zur Schule. Feuchter Nebel lag in der Luft und biss bei jedem Atemzug in Nase und Lunge. Er musste sich beeilen, fuhr möglichst die Ideallinie die Straße hinab. Das Licht hinter der Kurve kam urplötzlich und unerwartet auf ihn zu, hüllte ihn vollkommen ein, ließ ihn für Sekundenbruchteile blind werden. Dann fühlte er nur noch den Stoß gegen sein linkes Bein, ahnte mehr, dass er von der Straße gefegt wurde und im Gebüsch landete. Ebenso abrupt war die tiefe Dunkelheit um ihn herum.
„Und darum tut ihr gut daran“, wollte der Hauptwachtmeister gerade seine kleine Ansprache vor der Klasse 6d beenden, als die Tür aufging und Frau Meyer, die Sekretärin, hereinschaute. „Fabian ist verunglückt, Herr Korff,“ wandte sie sich an den Klassenlehrer, der neben Hauptwachmeister Glück stand, „er kommt heute nicht, ist ins Krankenhaus in Neustadt gebracht worden.“ „Danke, Frau Meyer, das ist eine schlimme Nachricht. Ich hoffe, es sieht nicht zu böse für ihn aus. Wissen sie Genaueres?“ „Eigentlich nicht, er ist wohl mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und von einem Auto erfasst worden.“ Damit schloss Frau Meyer wieder die Tür und ging in ihr Büro zurück.
Für einen Augenblick verharrte die Klasse in bedrücktem Schweigen. Dann wagte Maren den Hauptwachtmeister Glück zu fragen, was Fabian bei solch einem Zusammenstoß mit einem Auto zugestoßen sein könnte. Doch der konnte auch nur mit den Achseln zucken und hoffen, dass es nicht zu schlimm für Fabian aussähe. Das Auto wäre immer der Stärkere, aber darüber hätte er ja gerade mit ihnen gesprochen. Ein Raunen ging durch die Klasse, alle Möglichkeiten der Verletzungen bei Fahrradunfällen, die ihnen vor wenigen Minuten noch so eindringlich vor Augen geführt worden waren, kamen ihnen jetzt wieder in Erinnerung.
„Ich weiß ja nicht, wie sich der Unfall abgespielt hat“, fuhr der Polizist fort, „ich kann euch nur noch einmal daran erinnern, dass ein Autofahrer bei Dunkelheit und vielleicht dazu noch nasser Straße nur jene Fußgänger und Radfahrer sieht, die entweder eine auffällig reflektierende Kleidung tragen oder die vorgeschriebene Beleuchtung am Fahrrad haben. Darum auch die heutige Kontrolle der Räder auf dem Schulhof. Alle, denen ich eine Information für die Eltern mitgeben musste, tun gut daran, ihre Fahrräder so schnell wie möglich auf Vordermann zu bringen. Herr Korff wird das zusammen mit mir in der nächsten Woche noch einmal überprüfen. Wer dann weiterhin ohne Licht fährt, muss mit einem Bußgeld rechnen, das bestimmt von eurem Taschengeld abgezogen werden wird.“ Während einige Schüler schadenfroh grinsten, schauten andere missmutig drein. Sie hatten so eine Information für die Eltern ausgehändigt bekommen und dachten mit Unbehagen an den Augenblick, wo sie diese Vater oder Mutter zeigen mussten.
Es war schon zu spät. Wenn er jetzt noch zur Bushaltestelle lief, würde er nur noch die Rücklichter des Schulbusses zu sehen bekommen. Fabian hastete die Treppe hinunter, griff sich seine Schultasche, warf seiner Mutter noch ein kurzes „Tschüs, bis nachher!“ zu und verschwand durch die Haustür. Widerlich, kalt und nebelig schlug ihm der noch dunkle Novembermorgen entgegen. Wahrlich kein Tag, um mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Aber er hatte keine Wahl, sein Chatten nach dem Frühstück hatte zu lange gedauert, jetzt musste er durch diese Suppe durch.
Ärgerlich stellte er fest, dass die aufsteckbare Beleuchtung für sein Mountainbike noch in seinem Zimmer lag. Keine Zeit! Es würde ja eh gleich hell werden. Fabian schwang sich auf den Sattel und jagte die kleine Bergstraße hinunter. Noch drei Kurven und er hatte die Hauptstraße mit dem Fahrradweg erreicht. Der kürzeste Weg war jetzt der schnellste, also immer die Ideallinie ausnutzen. Er legte sich in die nächste Linkskurve, kam mit den Reifen fast an die Mittellinie heran. Der Fahrtwind pfiff in seinen Ohren.
Das Licht packte ihn mit solcher Gewalt, dass er geblendet die Augen zusammenkniff. Im nächsten Augenblick spürte er den Schlag gegen sein linkes Bein. Er schleuderte über die Fahrbahn und landete im Graben. Aber das hatte er nur noch erahnen können, denn plötzlich wurde es vollkommen still und dunkel um ihn herum.
Hauptwachtmeister Glück stand vor der Klasse und beendete gerade seinen Vortrag über die Wichtigkeit einer guten Fahrradbeleuchtung gerade zu dieser Jahreszeit. Autofahrer könnten Fußgänger und Fahrradfahrer bei Dunkelheit und wohlmöglich noch Nässe oft erst sehr spät erkennen, manchmal zu spät. Er wolle jetzt mit dem Klassenlehrer zusammen ihre Fahrräder überprüfen, Licht und reflektierende Kleidung sei der beste Schutz vor Unfällen. Es klopfte an der Klassentür, die Schulsekretärin trat herein und wandte sich an Herrn Korff, den Klassenlehrer. Fabian käme heute nicht zur Schule, er habe einen Unfall mit dem Fahrrad gehabt und läge jetzt im Krankenhaus.
Ein Raunen ging durch die Klasse. Was mochte ihrem Klassenkameraden zugestoßen sein, wie schlimm war er verletzt? Herr Glück wurde bestürmt, er könne sich doch vorstellen, was passiert sei. Aber der Hauptwachtmeister zuckte bedauernd mit den Schultern. Jeder Unfall verliefe anders, Fahrradfahrer hätten bei einem Zusammenstoß mit einem Auto aber immer die schlechteren Karten. Da gäbe es keinen Schutzraum, keine Sicherheitszelle wie bei den Autos, jeder Schlag ginge direkt auf den Körper. Stille trat ein, mit gesenkten Köpfen saßen die Kinder an ihren Tischen, hofften für Fabian, dass es noch einmal gut gegangen war.