ARCHIV Oktober 2011



eule




GRUSELNACHT


Das Wechselspiel von Licht und Schatten auf den Gesichtern der fünfundzwanzig Kinder trug zur beunruhigenden Atmosphäre dieser Lesenacht bei. Die große Kerze in der Mitte des Sitzkreises flackerte bei jedem kräftigen Ausatmen des Vorlesers. Ein erster Herbststurm heulte furchteinflößend um das alte Gemäuer der Schule. Unwirklich blinkte dann und wann das Rotlicht der Ampel einer nahegelegenen Kreuzung durch die Vorhänge und brachte für Augenblicke die Vorstellung eines Feuerscheins in den dunklen Klassenraum.


Sarah starrte ängstlich in das undurchdringliche Dickicht des Waldes vor ihr. Die Sonne war lange untergegangen, die Schattenwelt aufgezogen. Sie hatte sich verlaufen, wusste nicht mehr den Weg zurück zum Zeltdorf, wo die anderen Kinder bestimmt schon unruhig auf sie warteten. Der widerliche Geruch von faulen Zwiebeln drang ihr in die Nase, wurde stärker, je länger sie unschlüssig vor dem Buschwerk stand und in die aufkommende Nacht hinaushorchte. Plötzlich ein Knacken hinter ihr. Ein Wildtier? Der Wind? Der Schreck schoss Sarah in die Glieder, sie war unfähig, sich auch nur einen Schritt weiterzubewegen. Etwas Kaltes näherte sich ihr, sie konnte es fühlen, ohne es auch nur zu sehen.“


Ein Schrei gellte durch den Raum: „Nein!!!!“ Füße scharrten, Kinder sprangen auf, starrten in die Richtung, aus der dieser schreckliche Laut gekommen war. Die Kerze erlosch, es war stockdunkel. „Alle bleiben an ihrem Platz, es ist nichts geschehen!“, versuchte Herr Bitter in die Dunkelheit hinein zu beruhigen. "Finn, du sitzt am nächsten zum Lichtschalter, versuch ihn zu finden und anzuknipsen.“ Doch nichts geschah, der verdunkelte Klassenraum blieb tiefschwarz. Hier und da war ein leises Schluchzen zu vernehmen. „Herr Bitter, das Licht geht nicht an! Was machen wir jetzt?“


Ihr Klassenlehrer tastete sich zur Tür durch, versuchte manch einem Kind, das orientierungslos auf dem Boden umherkroch, aus dem Weg zu gehen. Als er endlich die Tür gefunden hatte, stieß er sie auf, hoffte wenigstens die Korridorbeleuchtung betätigen zu können. Aber es blieb dunkel, wenn hier auch noch eine Menge Restlicht half, den Weg zu finden. Irgendwo hatte es einen Kurzschluss gegeben, jetzt mussten sie mit dem Kerzenlicht auskommen. Es rächte sich, dass er den Kindern untersagt hatte, Taschenlampen zur Lesenacht mitzunehmen. Sie wollten es sich gemütlich machen bei warmen Kerzenlicht und gruselige Geschichten lesen.


Als Herr Bitter – zurück im Klassenraum – endlich wieder die große Kerze zum Leuchten gebracht hatte, zündete er noch einige Teelichter an, die er vorsorglich mitgebracht hatte. In dem schummrigen Licht, das jetzt den Raum erhellte, schaute er seine Kinder an und fragte, wer so entsetzlich geschrien und damit das folgende Chaos verursacht hätte. Zögernd hob Sabrina den Arm. Sie hatte noch immer Tränen in den Augen und zitterte am ganzen Körper. Ihre Freundinnen versuchten sie zu beruhigen, was ihnen aber offensichtlich nur schwer gelang. „Sabrina, was war los? Warum hast du uns dermaßen erschreckt?“


Ich, ich“, schluchzte Sabrina ihre Worte heraus, „ich fühlte plötzlich zwei eiskalte Hände um meinen Hals, irgendetwas Fransiges wedelte durch mein Gesicht. Da konnte ich nicht anders, es war zu schrecklich, einfach eklig.“ Herr Bitter schaute Ronnie scharf an, der hatte während des Vorlesens hinter Sabrina gesessen, seine Halloweenmaske trug einen dicken Schopf schmieriger schwarzer Haare. Jetzt saß er zwar nicht mehr hinter Sabrina, stützte sich aber immer noch im Schneidersitz mit den Händen auf dem kalten Boden ab.


 GRUSELNACHT (Kurzversion)

Die Kerze in der Mitte des Sitzkreis bot das einzige Licht im finsteren Klassenraum. Die Fenster waren so gut abgedunkelt, dass selbst die wechselnden Farben der Fußgängerampel draußen vor der Schule in der letzten Oktobernacht dieses Jahres nur schwach zu erahnen waren. Fünfundzwanzig Augenpaare ruhten auf Max, dem Vorleser, der auf dem Bauch lag und ganz nah an das unruhige Kerzenlicht herangerückt war. Fünfundzwanzig Ohrenpaare horchten gespannt auf seine Worte:


Sarah stand allein in der Schwärze des Waldes, sie hatte sich verlaufen. Das Zeltlager ihrer Feriengruppe konnte wer weiß wo sein, sie wusste es nicht mehr. Angst machte ihr das Atmen schwer, seltsame Geräusche drangen aus dem Unterholz zu ihr und ließen sie erzittern. Plötzlich hatte sie das sichere Gefühl, etwas oder jemand näherte sich ihr von hinten, etwas Kaltes, Bedrohliches. Sie erstarrte.“


Ein Schrei gellte durch das Klassenzimmer. Schüler sprangen auf, blickten suchend umher, versuchten herauszufinden, welcher Bedrohung sie sich hier im sicheren Klassenraum stellen mussten. Das Durcheinander ließ die Flamme der großen Kerze erst heftig hin und her flackern, dann erstarb das Licht. Es war stockdunkel. „Alle bleiben auf ihren Plätzen, es ist nichts passiert“, versuchte Herr Bitter zu beruhigen und bat einen Schüler das Licht anzuschalten. Es blieb dunkel, irgendwo musste es einen Kurzschluss gegeben haben.


Herr Bitter suchte sich einen Weg über die wieder am Boden kauernden und liegenden Kinder zur Tür, stieß sie weit auf, so dass ein wenig Restlicht vom Flur ins Klassenzimmer fiel. Das reichte ihm, die mittlerweile umgestoßene Kerze zu finden und sie erneut anzuzünden. Dann ließ er seinen Blick ärgerlich durch den Sitzkreis schweifen: „Wer hat da so entsetztlich laut geschrien?“ Eine zitternde Sabrina konnte kaum ihren Arm heben.


Ich, ich war das. Ich hatte mich so furchtbar erschrocken. Als Max von der Kälte vorlas, fühlte ich plötzlich zwei eiskalte Hände, die sich um meinen Hals legten. Es war einfach nur grausam.“ Herr Bitter blickte Ronnie böse an, der hatte die ganze Zeit hinter Sabrina gesessen. Auch jetzt verharrte er im Schneidersitz noch in ihrer Nähe, stützte sich mit den Händen auf dem kalten Boden ab. Hinter seiner Halloweenmaske mit dem Totenkopfgesicht war nicht zu erkennen, was nun in ihm vorging

DRACHEN

Wie ein Schäfer seine Herde so trieb der Herbstwind ein paar vereinzelte Schönwetterwölkchen vor sich her. Am blauen Himmel lachte die Sonne um die Wette mit den vielen Drachen, die als bunte Sprengsel das Firmament verschönerten. Auch Marek stand an diesem Nachmittag mit seinem Opa auf der Wiese hinter ihrer Siedlung, die Hände fest um die Schnurwicklung seines Fluggeräts gelegt. Ein Wochenende lang hatte er mit seinem Opa an diesem Drachen gebaut, der jetzt als strahlend rote Raute über ihnen stand. Die aufgemalten Augen schauten lustig auf sie herab.

Mit prüfendem Blick betrachtete der Opa die Umgebung, sah, wie sich ganz in der Nähe die Grashalme immer wieder tief zu Boden neigten. „Pass auf, Marek, der Wind wird böig. Halt die Leine gut fest.“ Schon im nächsten Augenblick erkannte Marek, was sein Opa mit dieser Warnung gemeint hatte. Irgendetwas riss an der Nylonschnur, der Drachen verließ seinen scheinbar so fest am Himmel verankerten Platz, die Schnur ruckte in Mareks Hand. Ehe er wusste, wie ihm geschah, jagte der Drachen - fortwährend Saltos schlagend - in die Tiefe. Marek riss und zerrte an der Schnur, lief so schnell er konnte ein paar Meter zurück, gab dem Drachen wieder mehr Schnur. Es nutzte aber nichts. Kopfüber schoss der Drachen dem Boden zu und bohrte sich mit der Spitze in den Wiesengrund. Marek lief zur Absturzstelle und atmete erleichtert auf, als er den Drachen unversehrt vorfand. Er versuchte mit Opas Hilfe mehrere Neustarts, aber mittlerweile war der Wind zu unberechenbar geworden. Es wollte nicht mehr klappen. Enttäuscht nahm er Drachen und Schnur und ging mit seinem Opa nach Hause.

Marek warf sich unruhig im Bett hin und her. Schlimme Bilder jagten durch seinen Kopf. Ein hässlicher, feuerroter Drache mit pechschwarzen Augen verfolgte ihn seit geraumer Zeit über eine felsige Hochebene. Gerade noch hatte er sich vollkommen außer Atem und am ganzen Leib zitternd wie Espenlaub hinter einem großen Granitblock verstecken können, da kam das Gebrüll des Untiers schon wieder näher. Brandgeruch hing in der Luft, ätzte in seiner Nase. Der helle Schein eines Feuerstrahls ließ die umherstehenden Felsbrocken aufglühen. Marek lugte vorsichtig hinter seinem Versteck hervor und erstarrte vor Schreck. Mit weit aufgerissenem Maul wartete der Drache nur wenige Meter entfernt auf sein Opfer. Die tiefroten Schuppen des Monsters glänzten unnatürlich auf, als es wieder einen feurigen Strahl in Mareks Richtung stieß. Spitze, scharfe Krallen gruben sich in das steinige Erdreich. Das Untier schüttelte sich einmal kurz, spannte all seine Muskel an und sprang.

Schweißgebadet wachte Marek auf. Noch gelähmt von den entsetzlichen Bildern seiner Flucht vor dem Drachen öffnete er vorsichtig die Augen. Langsam bewegte er zunächst seine linke, dann seine rechte Hand. Erst jetzt wurde er sich bewusst, von einem schrecklichen Albtraum heimgesucht worden zu sein. Es war vorbei. Marek beruhigte sich, sein Atem ging schon wieder gleichmäßig, sein Herz pochte nicht mehr so wild wie noch vor Minuten.


Über ihm hing sein Drachen festgezurrt an der Deckenlampe seines Zimmers und blickte auf ihn herab. Im Halbdunkel des Morgengrauens sah er jetzt gar nicht mehr so lustig aus wie noch am Nachmittag zuvor. Marek erhob sich mühsam von seinem Bett. Noch ganz benommen von dem schrecklichen Erlebnis der Nacht stieg er auf die Matratze, löste den Drachen von der Lampe und schob ihn dann unter sein Bett. Als er endlich fertig war, kroch er unter die noch warme Bettdecke zurück. Die Morgensonne warf einen ersten Sonnenstrahl an die Decke. Mit einem tiefen Seufzer, aber einem Lächeln auf dem Gesicht schlief Marek noch einmal ein.



DRACHEN (Kurzversion)



Ruhig stand der Drachen über ihnen am blauen Herbsthimmel. Ein leichter Wind trieb Schäfchenwolken vor sich her. Marek und sein Opa freuten sich, dass die Bastelarbeit des vergangenen Wochenendes jetzt in strahlendem Rot einer von vielen bunten Tupfern war, die mit den Wolken um die Wette tanzten. Die Idee, einen Drachen steigen zu lassen, hatten viele Kinder an diesem Tag gehabt. Es machte ja auch richtig Spaß. Immer höher stieg Mareks Drachen, die lustigen schwarzen Augen waren bald nur noch zu erahnen.

Mareks Opa beobachtete nicht ohne Sorge, wie sich hier und da die Gräser der Wiese plötzlich zu Boden duckten. Da deuteten sich Böen an, die das Drachensteigen bald schwieriger gestalten würden. Er warnte Marek, den Drachen genau im Auge zu behalten, der Wind würde unberechenbarer. Marek hielt die Schnurwicklung mit beiden Händen fest, konnte daher den ersten Ruck und das nachfolgende Nachgeben der Schnur sofort ausgleichen. Dann wurde der Drachen aber immer unruhiger, fing an zu schlingern, bis er urplötzlich Saltos schlagend zum Boden hinunterschoss. Marek lief so schnell er konnte einige Meter rückwärts, wollte den Drachen wieder Höhe gewinnen lassen, aber ohne Erfolg. Der Drachen machte eine letzte Drehung knapp über der Erde, um dann mit der Spitze voran in den Wiesengrund zu stürzen. Marek und sein Opa eilten zur Absturzstelle und waren froh, als sie sahen, dass dem Drachen nichts Ernstliches geschehen war. Doch für diesen Nachmittag hatte das Drachensteigen ein Ende gefunden. Es würde noch andere Herbsttage mit einem gleichmäßigeren Wind geben.

Der Morgen fing gerade an zu grauen, als sich Marek unruhig in seinem Bett hin- und herwarf. Ein riesengroßer, feuerroter Drache verfolgte ihn seit einiger Zeit, spie dann und wann einen Feuerstrahl in seine Richtung. Mit Mühe und Not konnte Marek sich hinter einem Felsklotz in Deckung bringen. Lange würde er diese Jagd nicht mehr aushalten. Vorsichtig schaute er hinter dem Felsen hervor. Der Drache stieß ein schauriges Gebrüll aus, schüttelte sich, dass die roten Schuppen nur so zu allen Seiten flogen. Marek sah zu seinem Entsetzen, dass das Monster all seine Muskeln anspannte, die Krallen in den felsigen Untergrund trieb und zum Sprung ansetze. Marek schrie auf.

Der Schrei hallte von der Decke seines Zimmers wider. Schweißgebadet wachte Marek auf und starrte auf seinen Drachen, der über ihm von der Lampe baumelte. Jetzt im Dämmerlicht strahlte er nichts Lustiges mehr aus, wirkte nur noch bedrohlich. Marek stand auf, löste den Drachen von der Lampe und schob ihn unter sein Bett. Schon etwas ruhiger geworden kroch er wieder unter die Bettdecke und versuchte weiterzuschlafen.



Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich:

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