ARCHIV März 2011


eule





 
Schmetterling

SCHMETTERLINGE



Eine dicke Staubschicht lag auf dem Kasten, den Markus oben auf der alten Kommode entdeckt hatte. Seit bestimmt einer Stunde wühlte er sich durch das Tohuwabohu unter dem Dach von Opas altem Haus. Solange Oma noch gelebt hatte, durfte er nie hier hochgehen. Aber Opa hatte schon immer ein Auge zugedrückt, wenn ihn sein Abenteuerdrang auf Abwege führte.


Der Deckel des Kastens war aus Glas, soviel konnte Markus schon erkennen. Einmal kräftig gepustet und die in einer großen Wolke davonstiebende Staubschicht gab den Blick frei auf ein seltsames Bild. Fein säuberlich aufgespießt und mit kleinen handbeschriebenen Namensschildchen versehen blickten ihn bald zwei Dutzend Schmetterlinge mit gespreizten Flügeln an. Hier ein Tagpfauenauge, dort ein Admiral, daneben ein Zitronenfalter, ein Kohlweißling, ein Kleiner Fuchs fehlte auch nicht. Markus staunte über die Vielfalt, die sich hinter dem Glas versammelte. Einige Falter kannte er von seinen Spaziergängen mit Opa, andere kamen ihm gänzlich unbekannt vor.


Vorsichtig trug er den Kasten die steile, ausziehbare Stiege in das oberste Stockwerk hinunter und rief nach seinem Opa. Der hatte sich gerade von seinem Mittagsnickerchen erhoben und kam auf ihn zu. Er staunte nicht schlecht über Markus' Schatz. Dann erzählte er ihm aber, wie er als Junge die Schmetterlinge mit dem Käscher gefangen, danach betäubt, getötet und in diesem Kasten aufbewahrt hatte. Das klang alles sehr spannend, Markus wäre gerne selbst sofort losgezogen, um Schmetterlinge zu fangen. Aber sein Opa fand die Idee überhaupt nicht gut, er erinnerte Markus daran, dass er viele der Schmetterlinge nicht erkannt hatte. Man könne sie heute auch nicht mehr finden, die Menschen hätten sie durch die Zerstörung ihres Lebensraums ausgerottet. Da wäre es doch wohl keine gute Idee, weitere Schmetterlinge zu töten.


Im ersten Augenblick war Markus untröstlich, das hätte doch ein so schöner Nachmittag werden können. Erst hätten sie einen Käscher gebaut, dann wäre er mit Opa auf die Wiese unterhalb der Hünenburg gegangen. Sie hätten bestimmt ganz viele Schmetterlinge gefangen. Als sein Opa sah, wie enttäuscht Markus war, ging er kurz in sein Arbeitszimmer und kam dann - die Hände hinter seinem Rücken verborgen - mit einem Lächeln zu ihm zurück. Langsam zog er seine Arme hervor und reichte Markus eine kleine Kamera. „Hier, das ist unser Käscher heute, damit gehen wir jetzt auf Schmetterlingsfang“, ermunterte er seinen Enkel. Markus strahlte vor Freude, was für eine prima Idee. Opa würde ihm zeigen, wie man mit einer Digitalkamera fotografiert, und gleichzeitig konnte er bestimmt ein paar schöne Schmetterlinge fotografieren. Die Fotos würde er dann in der Schule herumzeigen.


Er konnte es kaum noch abwarten, mit Opa loszuziehen. Aber es war dann schon ein gehöriges Stück Arbeit, bis er seinen ersten Schmetterling im Kasten hatte. So schön, wie sie waren, so schnell und flatterhaft waren die Falter auch. Markus jagte über die Wiese, sein Opa keuchte hinterher. Ein Kleiner Fuchs ging ihm endlich in das elektronische Netz, dazu noch halbwegs scharf. Markus war stolz, diesen Schatz wollte er seinen besten Freunden sofort zeigen, bis zur Schule dauerte es noch zu lang.


Zu Hause bearbeitete sein Opa das Foto kurz am Computer, danach sah der Schmetterling viel strahlender aus. Dann rief Markus sein Email Programm auf, berichtete seinen Freunden von seinem aufregenden Nachmittag und hängte der Nachricht das Foto des Kleinen Fuchs an. Das ausgedruckte Foto spießte er dann auf der Korktafel neben seinem Bett auf. Das tat keinem Schmetterling weh.


SCHMETTERLINGE (Kurzversion)



Als Markus auf dem Dachboden den Kasten mit den aufgespießten Schmetterlingen fand, war er beeindruckt von der bunten Vielfalt unter dem verstaubten Glasdeckel. Einige hatte er selbst schon einmal bei Spaziergängen mit seinem Opa kennengelernt, andere waren ihm gänzlich unbekannt. Kleine Namensschilder neben den Faltern sagten ihm, dass es sich hier um ein Tagpfauenauge, dort um einen Admiral, einen Zitronenfalter oder auch einen Kohlweißling handelte. Behutsam trug er den Kasten die Treppe hinunter.


Sein Opa war gerade von einem kurzen Mittagsschläfchen aufgewacht. Er wunderte sich über den alten Kasten, den Markus ihm entgegenhielt. Er hatte schon gar nicht mehr gewusst, dass er überhaupt noch vorhanden war. Denn diese Schmetterlingssammlung hatte er angelegt, als er selbst noch Kind war. Wissbegierig hörte Markus zu, als sein Opa ihm erzählte, wie er die Schmetterlinge mit einem selbst gebastelten Käscher gefangen, dann betäubt, getötet und aufgespießt hatte.


Markus wollte sofort losziehen, um selbst auf Schmetterlingsjagd zu gehen. Sein Opa hielt ihn aber zurück. So erfuhr Markus, dass ihm viele der Schmetterlinge im Kasten auch deshalb unbekannt vorkommen mussten, weil es sie heute gar nicht mehr gab. Der Mensch hatte die Lebensräume der Insekten zerstört. Also, meinte der Opa, wäre es wohl wirklich keine gute Idee, noch mehr Schmetterlinge zu töten.


Als er dann aber das enttäuschte Gesicht seines Enkels sah, schlug er ihm eine andere Art Jagd vor. Er holte eine kleine Digitalkamera aus seinem Büro und forderte Markus auf, Schmetterlinge mit diesem elektronischen Käscher einzufangen. Markus' Miene hellte sich auf, voller Freude ging er mit seinem Opa auf die große Wiese unterhalb der Hünenburg.


Bald schon sahen sie ein paar Schmetterlinge von Blüte zu Blüte fliegen. Es war alles andere als leicht, diese flatterhaften Gesellen vor die Linse zu bekommen, keiner wollte auch nur einen kurzen Augenblick mal ruhig sitzenbleiben. Aber endlich konnte Markus einen Kleinen Fuchs im Bild einfangen. Er war so glücklich über diesen Schatz, dass er noch am selben Tag seinen besten Freunden eine Email über sein Nachmittagsabenteuer schrieb und das Foto anhängte. Vielleicht konnte er sie ja dazu begeistern, mit ihm am Wochenende diese Jagd gemeinsam zu wiederholen.

Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich:

textbuch

Pomodoro

Florian schlug die Wohnungstür hinter sich zu, warf den Schulranzen vor die Tür seines Zimmers, hing den Anorak auf den Haken und ging in die Küche. Mit einem Plumps ließ er sich auf den Stuhl fallen. Seine Mutter schaute von ihrer Arbeit am Herd auf und begrüßte ihn: „Wie war's, Flo, alles ok?“ Florian atmete einmal tief durch, wollte eigentlich über den Streit mit Max reden, beließ es dann aber bei einem: „Alles bestens, Mama.“ Erst jetzt fiel ihm die rote Tomate neben seinem Teller auf. „Was ist denn das?“, fragte er seine Mutter und nahm das Teil in die Hand. Es sah zwar aus wie eine Tomate, war aber aus Kunststoff und hatte eine Zahlenskala um seine Mitte.


Frau Bucher stellte den Suppentopf auf den Tisch, schenkte Florian und sich selbst eine lecker duftende Minestrone ein und sagte dann: „Das ist ein Pomodoro, Flo, Pomodoro.“ Dabei zog sie das dritte O auseinander wie ein Kaugummi und setzte gekonnt ein Gaumen R hinterher. Florian schaute seine Mutter entgeistert an: „Mama, hast du was, wie sprichst du denn?“ „Das ist Italienisch, Flo, Pomodoro spricht man so aus.“ „Na, gut, was machst du damit?“ „Ich eigentlich nichts, Flo, der Pomodoro ist für dich.“


Nun erzählte sie ihrem Sohn, wie sie am Tag zuvor seine Klassenlehrerin im Supermarkt getroffen hatte. Frau Huber habe ihn kräftig gelobt, in Deutsch sei er ganz große Klasse, helfe sogar den schwächeren Kindern. Nur mit Mathe habe er wohl ein Problem, Herr Hofer ärgere sich darüber, dass er keine Aufgabe richtig anginge und wenn, dann lange herumtrödele. „Aber du weißt doch, ich hasse Mathe, Mama, ich kann das nicht!“ „Frau Huber ist aber überzeugt, dass du das schaffst, ich glaube das auch. Was meinst du, willst du es nicht mal versuchen, zügig deine Aufgaben zu machen?“ „Ja, Mama, aber wie soll das gehen?“ „Vertrau deinem Pomodoro. Komm, nach dem Mittagessen setzt du dich an die Hausaufgaben, stellst den Wecker auf 15 Minuten ein und zeigst 

mir danach, was du in dieser Zeit geschafft hast. Dann hab ich auch noch etwas Leckeres für dich. Abgemacht?“ Florian schaute seine Mutter zweifelnd an, rang sich dann aber zu einem „Abgemacht!“ durch.


Der erste Versuch fiel zwar schwer, Florian ließ sich zwischendurch doch wieder kurz von seinen Sammelbildern ablenken. Er hatte in der Schule zwei doppelte Karten gegen zwei neue umgetauscht, die er schon lange haben wollte. Aber irgendwie freute er sich selbst, als der Pomodoro schellte und er der Mutter zumindest ein fertiges Rechenpäckchen zeigen konnte. Zur Belohnung bekam er ein dickes Stück Schokoladenkuchen. In den nächsten Tagen gewöhnte er sich immer mehr an die Arbeit mit Pomo, wie er den knallroten Kurzzeitwecker jetzt nannte. Nicht nur seine Mutter lobte ihn für seinen Einsatz, auch Herr Hofer bemerkte die Veränderung und würdigte seine kleinen Erfolge vor der Klasse. Florian war echt stolz, auch wenn Mathematik weiterhin eine Qual für ihn war. Aber Pomo sei Dank, die Aufgaben erledigte er jetzt zu Hause immer schneller.


Eines Nachts hatte er dann einen schrecklichen Traum. Aus dem Kleiderschrank am Fuße seines Bettes entsprang ein grauenhaftes Ungeheuer, über und über mit grell aufflammenden Zahlen und Symbolen besät, das Mathe-Ungeheuer. Als es näher kam, griff Florian zu seinem Pomo, der neben ihm auf dem Nachttisch stand, und streckte ihn dem Scheusal entgegen. Pomo leuchtete auf, strahlte immer stärker und sandte dann einen heftigen Lichtblitz gegen das Ungeheuer aus. Fort war es. Florian konnte beruhigt weiterschlafen. Als seine Mutter am nächsten Morgen zum Wecken in Florians Zimmer trat, musste sie lächeln. Florian schlummerte noch tief und fest. Auf der Bettdecke aber lag Pomo, und es schien ihr, als ob der kleine Pomodoro sie mit einem Augenzwinkern angrinste.



Pomodoro (Kurzversion)


Als Florian aus der Schule kam, hielt seine Mutter zwei Überraschungen für ihn bereit. Die erste war ein knallrotes Etwas, das neben Florians Teller auf dem Küchentisch stand. Es sah aus wie eine Tomate, war aber aus Plastik und hatte eine Zahlenreihe um den Bauch. Sah nach einem Kurzzeitwecker aus.

Mama, was soll dieses Ding hier an meinem Platz?“, fragte Florian und lockte damit die zweite Überraschung aus Frau Bucher heraus. „Das ist ein Pomodoro, Flo.“ „Ein was? Und wie sprichst du überhaupt?“ Seine Mutter hatte das dritte O des komischen Wortes richtig lang gezogen wie ein Gummiband. „Flo, Pomodoro kommt aus dem Italienischen und bedeutet Tomate. Sieht doch lustig aus, deine Tomate?“ „Was soll ich damit, dieses Pomo-Ding kann ich ja noch nicht einmal essen.“


Und nun erzählte Frau Bucher ihrem Sohn von dem Zusammentreffen mit seiner Klassenlehrerin, Frau Huber, im Supermarkt. Sie habe ihn für seine Leistungen in Deutsch gelobt aber auch die Sorgen des Mathematiklehrers weitergegeben. „Du, der stellt dasselbe fest wie ich, Flo, du brauchst eine Ewigkeit für deine Aufgaben.“ „Ja, ich mag Mathe nun mal nicht, das ist alles so schwierig.“ „Frau Huber ist sich sicher, dass du das schaffst, ich bin das auch. Willst du nicht mal mit Hilfe des Pomodoro versuchen, zügiger zu arbeiten? Pass auf, du stellst zu Beginn der Hausarbeiten den Pomodoro auf 15 Minuten ein. Wenn es schellt, zeigst du mir, was du schon geschafft hast. Dann bekommst du auch eine leckere Belohnung.“


Es kostete Florian noch einige Überwindung, bis er sich nach dem Essen den roten Wecker nahm, ihn einstellte und mit dem ersten Mathe-Päckchen begann. Er staunte und freute sich riesig, dass er beim Schellen des Pomodoro die Aufgabe wirklich gelöst hatte. Seine Mutter freute sich nicht weniger und belohnte ihn mit einem dicken Stück Schokoladenkuchen.


In den folgenden Wochen gewöhnte sich Florian an seinen Pomo, wie er ihn nun schon fast liebevoll nannte. Er machte Fortschritte, war früher mit der Hausarbeit fertig und konnte eher spielen gehen. Selbst Herr Hofer lobte ihn vor der Klasse für seine Arbeit im Mathematikunterricht. Mathe verursachte ihm keine schlaflosen Nächte mehr. Als ihn dann doch noch einmal ein Albtraum heimsuchte, wurde Pomo sein Retter im Kampf gegen das Zahlenungeheuer. Pomo strahlte das Monster so durchdringend rot an, dass die Zahlen und Symbole wie Schuppen von seinem Körper fielen und es sich schämte, weiter nackt durch Florians Traum zu geistern.


Als Florian am nächsten Morgen aufwachte, nahm er Pomo fest in beide Hände: „Pomo, danke, wir zwei schaffen das schon!“